Neues von der Bettkante
Über lähmende Ängste und dunkle Zwänge

In dieser Woche schrieben mich zwei junge Männer auf den Dating-Apps an. Es ging bei beiden um HIV. Der erste fragte höflich, ob er mir eine Frage stellen dürfe. Er fragte, ob ich positiv bin. Auf der App kann man seinen HIV-Status angeben. Bei mir steht positiv mit Viruslast unter der Nachweisgrenze. Es kostete also nichts, seine Frage zu bejahen.

Ob ich nicht Angst habe, fragte er weiter.

Nun, meine HIV-Diagnose ist mehr als 25 Jahre alt. Ich nehme eine Tablette am Tag, habe keine Nebenwirkungen. Letzten Montag war ich beim Arzt, alle meine Werte sind gut. Ich sagte dem jungen Mann, dass ich schon lange keine Angst mehr habe.

Früher war das anders.

Er fragte nun, wie man wissen könne, ob jemand HIV-positiv ist, wenn er es nicht sagt. Er war mit jemandem zusammen und hatte nun große Angst. Ich sagte ihm: Das kannst du nicht wissen. Heutzutage ist es aber schwieriger, sich zu infizieren. Ich riet ihm zum Arzt oder zu Mann-O-Meter zu gehen und sich testen lassen. Sich mit den Infektionswegen bekannt zu machen. HIV ist (fast) nur durch Sperma und Blut übertragbar.

Alles gute praktische Ratschläge.

Er erzählte dann, dass er einen Mann geküsst, also keinen Analverkehr gehabt hätte. Ich sagte ihm, dass es sehr unwahrscheinlich wäre, sich so mit HIV anzustecken.

Seine Angst konnte ich ihm aber nicht nehmen.

In der Nacht wachte ich plötzlich auf und musste einige Angst-Übungen machen. Auch wenn ich schon lange keine Angst mehr vor HIV verspüre, lebt in mir dennoch Angst. Alte Ängste, Dauer-Ängste, neue Ängste.

Wovor? Als Sänger begegnet mir immer wieder die Angst, bevor ich auf die Bühne gehe. Ich kenne diese Angst, erwarte sie, ich weiß, wie ich damit umgehe. Ich kann sie sogar gebrauchen, um vor einem Konzert meinen Fokus zu finden.

Als Vorsitzender unseres Vereins „Songs of Life“ habe ich immer wieder Angst davor, dass wir unsere Konzerte nicht finanzieren können. Ich bin kein Finanz-Experte, es ist also eine andere als die Performance-Angst, mit der ich mich halbwegs sicher fühle. Ich bin aber nicht allein mit unserem Finanzproblem, irgendwie finden wir immer wieder eine Lösung.

Vor HIV habe ich keine (oder nur wenig) Angst. Ich weiß sehr gut, dass manche mich auf den Apps blockieren, weil ich offen meinen positiven Status mitteile. Das hat mich schon früher traurig gemacht. Aber ich folge den Richtlinien, und ich bin wissenschaftlich bewiesen nicht ansteckend.

Ein paar Tage später schrieb mir ein anderer junger Mann an. Er fragte, ob ich POZ sei. Sich als POZ zu outen kann für einen HIV-Positiven eine lebensbejahende Befreiungsaktion von der Stigmatisierung der sexuellen Krankheit sein. Es kann aber auch mit einer Faszination der toxischen Ansteckung verbunden sein.

Pozzen oder Pozzing ist die absichtliche Serokonversion (anstecken mit Virus) HIV-negativer Personen durch kondomlosen Sex mit HIV-positiven Personen. Es spielt sich am meisten als Web-Fantasie bei HIV-negativen aus.

Bei diesem jungen Mann ging es um das letztere. Es würde ihn geil machen. Mich aber nicht. Manchmal begegnen mir solche Typen, meine Antwort ist immer sofort abzulehnen. Ich musste ihn nicht blockieren, das hat er danach für mich erledigt.

Weder schäme ich mich, noch bin ich stolz auf meinen HIV-Status. Ich bedaure ihn nicht, ich bete ihn nicht an. Es ist einfach so.

Vielleicht habe ich Mitgefühl angesichts der menschlichen Zerbrechlichkeit aus entwickelt, das sogar sexuell attraktiv sein kann. Es gibt jedenfalls viele Leute, die damit gut umgehen.
Die, die es nicht können, sollten auch nicht mit mir intim verkehren.

So wie beim Singen habe ich mit meinem HIV-Status viele Jahre geübt, und ich fühle heutzutage generell nur ein Sausen von Melancholie oder Irritation, wenn mir solche Situationen begegnen.

In der Nacht nach dem letzten Austausch schlief ich bis 10.30 Uhr am folgenden Morgen, was nur 1–2-mal im Jahr passiert. Vielleicht hatte es mir gut getan solidarisch zu mir selbst zu stehen?

Immer wenn sich eine neue Katastrophe anbahnt, können wir sicher sein, dass sich auch die Angst und die dunkelsten Zwänge einstellen. Ob Krieg, Finanzkrise oder eine neue Pandemie. Sie sind sichere Begleiter.

In meinen bald 40 Jahren als sexuell aktiver, schwuler Mann waren die ersten 15 Jahre von Todesangst vor AIDS überschattet. Vor 10 bis 15 Jahren war Hepatitis C stark verbreitet und erregte mit der sehr unangenehmen Interferon-Therapie viel Furcht und ablehnende Reaktionen unter sexuell aktiven, schwulen Männern. Letztes Jahr führten die Affenpocken zu neuen, scheinbar unkontrollierbaren Angst-Impulsen.

Die Wissenschaft lehrt uns, dass das Angst-Zentrum im Hypothalamus sitzt, dem ReptilGehirn des Menschen. Sie ist viel älter als das logische Denken und reagiert bekanntermaßen nur begrenzt auf Fakten und nachweisbare Tatsachen.

Vermutlich wohnen unsere dunklen Zwänge in einem Raum nebenan. Mit Durchgangstür verbunden.

Wir können üben, mit der Angst umzugehen. Die persönliche Hölle unserer dunklen Zwänge ist keine Endstation unserer Ausflüge im Land der Triebe. Sie kann ein Punkt der radikalen Selbstakzeptanz für die weitere Reise sein.

Auch wenn die Ängste des ersten jungen Mannes nichts mit dem Hier und Jetzt zu tun haben, sind sie real. Was den dunklen Zwängen des anderen jungen Mannes angeht. Sie haben nichts mit mir zu tun, wenn ich nicht entscheide in den Fantasien teilzunehmen. Übrigens kann ich wie oben erwähnt keine Viren weitergeben.

Mein schöner Schwanz ist keine Waffe der Massenvernichtung, in meinem sensiblen Arsch gibt es kein Lager von giftigem Abfall. Auch sind sie keine Instrumente des Welt-Friedens. Ich habe ausreichend Temperament und Leidenschaft. Aber ich setze sie am liebsten für geteilte Freuden ein.

Ich hoffe für die jungen Männer, dass sie fleißig üben und sich gute, erfüllende Sexualleben erschaffen.

Die amerikanische buddhistische Nonne und Schriftstellerin Pema Chödrön schreibt in ihrem Buch „Geh an die Orte, die du fürchtest“:

„Wir können zulassen, dass die Umstände unseres Lebens uns verhärten, so dass wir zunehmend nachtragend und ängstlich werden, oder wir können zulassen, dass sie uns weicher machen und uns freundlicher und offener für das machen, was uns Angst macht. Wir haben immer diese Wahl.“

In diesem Sinne wollen wir wieder dieses Jahr den Welt-AIDS-Tag mit einem schönen Konzert feiern. Wir bemühen uns noch einmal, weicher und freundlicher zu werden.

Jeder ist willkommen!

Mads Elung-Jensen, Berlin 30. Oktober 2023

 

Wir freuen uns sehr über jede Unterstützung unserer Arbeit. Hier kannst du direkt spenden:

https://www.betterplace.org/de/projects/126317