Glück im Leben und im Tod

Hier ist meine Geschichte von Lykke, eine der markantesten Personen, die ich je gekannt habe, und über unsere Freundschaft, die von 1985 bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 dauerte.

1985 war ich 20 Jahre alt, ich war am Jahr davor von der dänischen Provinz nach Kopenhagen gekommen, um zu sehen, ob ich mir ein Leben als klassischer Sänger machen konnte.

Ich studierte Musikwissenschaft an der Uni und meine dortige Gesangslehrerin meinte, dass ich den Sprung wagen und für Die Königliche Dänische Musikhochschule vorsingen sollte.

Um die Aufnahmeprüfung zu vorbereiten, empfahl sie, dass ich bei Lehrern von der Hochschule Privatunterricht nehmen sollte. Gesang, Korrepetition (Repertoireeinstudierung mit einem spezialisierten Pianisten), Klavier, Musiktheorie und Gehörbildung.

Ich folgte ihrem Rat und musste Geld verdienen, um all die Unterricht zu finanzieren. Ich hatte früher in einem Kindergarten in der Provinz gearbeitet, und ich liebte die Kinder. Das Vorteil war auch dass man sehr früh anfangen, schon um 14.30 Uhr Feierabend haben und dann nachmittags und abends singen konnte. Ich bewarb mich als Mithilfe in der Kita der Zentralmission in Kopenhagen.

Ich wurde zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, die Kita war ganz normal, ein Teil der sozialen Arbeit der Methodist Kirche.

Ich teilte flott mit, dass ich für die Musikhochschule vorsingen wollte und Geld brauchte.

Diese Aussage zeigte sich nicht unmittelbar kitakarrierefördernd zu sein. Zwei der Pädagogen wollte eher einen traditionellen Pädagogen Typ haben, aber die leitende Pädagogin, Lykke, wollte mich haben. Sie bekam mich.

Lächeln zu alten Damen

Lykke (der Name bedeutet Glück auf Dänisch) war 10 Jahre älter als ich, 1955 geboren. Sie kam aus einer exzentrischen Hochbürgerfamilie. Sie hatte versucht sich als Architektin auszubilden, aber befand sich in der Academia nicht wohl. Ihr Gehirn war auch nicht besonders abstrakt angelegt, so es waren einige Disziplinen im Studium, die sie nur mühsam bewältigen konnte.

Stattdessen hatte sie sich als Pädagogin ausgebildet, sie war eine aktive linksradikale Feministin, wohnte mit ihrem Sohn Mads in der Baggesensgade, nah am Blågårds Plads im Kopenhagener Kiez Nørrebro. Hier, unter anderen alleinstehenden Müttern, Leute auf Dauersozialhilfe, vertriebenen Palästinensern und anderen guten bunten Menschen war sie zu Hause.

Sie hatte flammende rote Haare, mit den Jahren wurden sie hellblond und später weißgrau. Sie hatte enorme Schneidezähne und fantastische gute Laune.

Wie sie sagte, „Manchmal ist man einfach so glücklich, dass man eine alte Dame finden muss, zu der man lächeln kann, denn alle anderen denken, dass man verrückt ist.“

Sie hatte natürlich auch entsprechende dunkle Momente, sie hatte eine Energie und ein Willen wie ein Bulldozer und eine ganz besondere Fähigkeit, die unterschiedlichen Katastrophen des Lebens schräg philosophisch heiter anzuschauen.

Am allermeisten hatte sie eine Fähigkeit zu mögen und zu lieben, sie konnte sowohl Kinder als Erwachsene lesen, sie zu manchen Zeiten freundlich zu anderen sehr direkt in die Richtung führen, die sie als passend empfand.

Sie hatte ein photographisches Gedächtnis für alle Kinder, die je in ihren Kitas gewesen waren, selbst nach 20 Jahren konnte sie mich an jedes kleine Kind erinnern, die wir gemeinsam betreut hatten, damit es leuchtend klar in meiner Erinnerung stand.

Jede sprachliche Erneuerung kommt von der Arbeiterklasse

Am meisten haben wir gut gemeinsam gearbeitet, ich war damals vom Singen besessen und sang die ganze Zeit, auch für die Kinder. Das war für Lykke ganz in Ordnung. Sie behandelte mich einfach wie einen wohlfunktionierenden jüngeren Kollegen, der ziemlich viel sang.

Sie brachte mir bei, wie sie die Kinder las, und sonst gab sie am meisten ihre Ratschläge durch lustige Erzählungen von Sachen, die der Vergangenheit besonders schief gegangen waren.

Ab und zu lud sie mich privat bei sich in Nørrebro ein, ich lernte ihre ziemlich speziellen Schwestern und deren Kinder kennen, wir haben geraucht und gesoffen und landeten manchmal in ziemlich aggressiven Nørrebroer Kneipen, die ich nie wieder besucht haben. Man ist wohl ein netter Junge. Auch da war sie total zu Hause.

Einmal bekam ich eine unvergessliche Ermahnung.

In jugendlicher Arroganz hatte ich mich über sogenannten Loser-Namen wie Brian und Dennis lustig gemacht. Plötzlich kam wie ein Blitz vom klaren Himmel:

„Lass mich dir eines sagen, mein feiner Freund. Jede sprachliche Erneuerung kommt von der Arbeiterklasse. Es sind sie, die lustige Wörter und Namen von anderen Ländern hören. Wenn sie die feinen Wörter nicht ganz verstehen, spielen sie mit ihnen, passen sie an und geben ihnen eine neue Bedeutung, die dann langsam nach oben fließen und ein Teil des gängigen Sprachgebrauches werden. Es geht nie in die andere Richtung!“

Bum. Danach hat sie freundlich über den Namen Mads ironisiert. Derzeit stammte der Name in Dänemark nur von Familien von der humanistisch ausgebildeten Welt – ich heiße es, und also auch ihr eigener Sohn.

Waren wir denn die echten sprachlichen Verlierer? Vielleicht nicht ganz.

Ich fand das Glück durch soziale Deroute

1987 bewarb ich mich für die Musikhochschule und wurde akzeptiert. Mit Tränen nahm ich Abschied von den lieben Kindern und Kollegen. Lykke und ich verblieben in Kontakt. Wir sahen uns drei-viermal im Jahr, verbrachten gemeinsam schöne Stunden und machten sonst jeder seine Sache.

Einmal waren ein paar Jahre vergangen. 1998 hatte ich eine HIV-Diagnose bekommen, war eine Weile ziemlich schwach, und ich hatte etwas Zeit mit Wunden lecken verbracht. Die Therapie funktionierte aber gut, ich erholte mich und hatte auch ein Stipendiumaufenthalt in Paris bekommen. Als ich nach Hause kam, rief ich Lykke an.

„Ich habe Krebs gehabt. Im Darm,“ erzählte sie mir. Sie hatte eine OP gehabt. Der Krebs war entfernt, aber der Darm war zusammengebrochen, und sie hatte jetzt ein Stoma, einen künstlichen Ausgang.

Sie hatte auch ein Kinder-Burnout gehabt, sie konnte es nicht mehr überschauen, Kinder zu betreuen und war langfristig krankgeschrieben.

Ich erzählte ihr natürlich auch von meiner HIV-Diagnose, und wir fingen wieder an, uns regelmäßig zu sehen. Das Schlimmste war anscheinend überstanden, aber keiner von uns wusste richtig, wie es weitergehen sollte.

Es war immer leicht mit Lykke zu reden, auch über Themen, die ich schwer mit anderen besprechen konnte. Sie war sowohl praktisch nüchtern, was unseren respektiven Krankheitsgeschichten anbelangt und gegenüber den Ungerechtigkeiten des Lebens erfrischend munter morbid.

Sie wurde nur sentimental, wenn sie mich singen hörte. Das war auch gut so.

Lykke liebte Erde und Pflanzen und versuchte, Kursen von Physik und Mathematik zu folgen, damit sie sich als Landschaftsarchitektin ausbilden konnte.

Ihr Gehirn konnte aber immer noch nicht in abstrakten Bahnen denken, sie musste das Gras beißen und wurde stattdessen als Gärtnerin umgeschult.

Das ging gut, sie liebte all die süßen wilden Jungs, mit denen sie ausgebildet wurden, die alle nicht den tiefen Teller erfunden hatten.

Als die Ausbildung fertig war, wurde sie Friedhofsgärtnerin. Sie hatte immer freiberufliche Saison-Anstellungen, was ihr manchmal ärgerte, denn sie nahm ihre Arbeit ernst und liebe was sie machte.

„Ich fand das Glück durch soziale Deroute. Ich ging von meiner feinen Familie über das Architekt-Studium und das Leben als Pädagogin zum schönsten Leben als Gärtnerin. Ich liebe es, auf dem Friedhof mit dem Arsch nach oben zu liegen und die Gräber zu Weihnachten mit Fichte zu dekorieren.“

Es bestand kein Zweifel, dass sie glücklich war, über die Arbeit und nicht zuletzt über die nicht hyper-intellektuellen Kollegen.

Sie hatte auch eine feste Gruppe von Blågårds Plads-Freundinnen, mit denen sie Arbeiter- und feministische Kampflieder sang. Freundschaften, die sie durch Jahrzehnte gepflegt hatte und sehr schätzte.

Am allerliebsten war für sie ihr Sohn Mads. Mads war inzwischen erwachsen, er hatte seinen Kreis von Freunden als ein sehr rothaariger Teil der palästinensischen Knabenbruderschaft auf Blågårds Plads gefunden. Ansonsten studierte er Ökonomie auf dem Copenhagen Business School.

Etwas was mit C anfängt

Eines Tages rief Lykke an und erzählte, dass ihr Krebs wieder ausgebrochen war. Entweder würde sie eine OP, Bestrahlungen, Chemo oder hormonelle Therapie bekommen. Oder experimentelle Behandlungen. Am Ende bekam sie einen Cocktail von allem.

Es war ernst. Ich hatte Thomas geheiratet, der Oberarzt in der Kopenhagener Universitätsklinik ist. Wir wohnten um die Ecke, jeder taten wir, was wir konnten, und was für Lykke passend war mit uns zu teilen.

Lykke wurde von Klinik über Klinik zu noch anderen Kliniken geschickt. Ihr begegnete ein Haufen von Onkologen mit verschiedenen Graden von professionellen und sozialen Kompetenzen.

Zu einem Zeitpunkt war sie vergessen worden. Einige Ärzte meinten, dass der Krebs von der Gebärmutter, andere dass er vom Darm stammte. Beide Abteilungen hatten sie weitergeleitet und archiviert. Sie wurde nur durch Thomas‘ freundliche kollegiale Beharrlichkeit wiedergefunden.

Es ist sehr praktisch einen guten Arzt zu kennen, wenn man ernsthaft krank ist!

Lykke musste ihre Arbeit als Gärtnerin aufgeben und sich um Frührente bewerben. Wir waren in dem Teil ihrem Verlauf nicht direkt involviert, aber es gab viele demütigende Geschichten von unfreundlichen und inkompetenten Sachbearbeitern, bis die Rente endlich bewilligt wurde.

Lykke war fest entschieden, ihre nüchterne praktische Einstellung und so viel wie möglich von ihrer guten schrägen Laune zu behalten.

Wenn wir uns trafen, fing sie immer damit an zu erzählen, wovor sie Angst hatte, was sie nicht überschauen konnte, und wo sie sich in den endlosen Behandlungen befand.

Es war für sie normal, Angst zu haben und ihre Lage nicht überschauen zu können. Damit wurde es ein normaler Teil von ihrem Leben, und konnte nicht all das überschatten, was sie liebte und worüber sie nachher sehr gerne erzählte.

Es war mein Eindruck, dass Lykke sehen konnte, dass auch ich auf dieser Art gut funktioniere. Dadurch konnte sie mich in ihrem Verlauf gut gebrauchen und wahrscheinlich wollte sie mich auch für zukünftige unmögliche Herausforderungen trainieren. Einmal Pädagoge…

Der beste Freund von ihrem Mads war in einem Motorradunfall gestorben. Mads hatte sich in seine Schwester verliebt, war Muslim geworden und nahm den Glauben ernst. Die Liebe wurde erwidert. Sie heirateten und bekamen während Lykkes Krankheitsverlauf zwei wunderbare schöne Kinder.

Mads‘ Glück erfreute Lykke enorm, sie liebe ihre Schwiegertochter und es war ein Wunder für sie, dass sie erleben durfte, die Kinder zur Welt sehen zu kommen und ihre ersten Jahre zu erleben.

Sie sagte zu mir „Ich weiß ganz gut, dass ich von etwas was mit C (Cancer) anfängt sterben werde. Es funktioniert einfach besser für mich auf Wolke sieben zu leben und ich bestehe darauf das zu tun, solange es überhaupt möglich ist. Wenn ich einen Arzt bekomme, der meint, dass alles traurig und ernst ist, bitte ich darum einen anderen zu bekommen. Es passt mich ausgezeichnet mit Ärzten, die sagen, dass alles gut geht.“

Ab und zu musste sie gegenüber sentimentalen Menschen in ihrem Kreis brutal abweisend. „Ich habe einfach keine Kraft mehr, die Trauer anderer zu tragen. Die müssen sie woanders hinbringen.“

So funktionierte es gut mit Chemo, OPs und neuen experimentellen Therapien.

Jedes Mal war sie sehr positiv über die neuen Chancen, die ihr mehr Zeit gaben, ihre Enkelkinder aufwachsen zu erleben.

Die Niederlagen, wenn die Therapien trotzdem nicht funktionierten, nahm sie mit immer steigender philosophischer Distanz.

5 Mäuse und 2 Menschen

2009 hatte ich mich trennen lassen und war nach Berlin gezogen.

Wir sahen uns immer noch, wenn ich zwischendurch in Kopenhagen war. Im Frühsommer 2010 sagte sie. „Jetzt haben sie mir etwas angeboten, was nur auf 5 Mäuse und 2 Menschen getestet worden ist. Dann gibt es noch ein Präparat, und dann kann man nicht mehr machen.“

Juli rief Thomas an. Lykke hätte sehr verwirrt angerufen, später konnte er sie nicht erreichen. Eine Woche danach rief er an. Sie war gestorben. Am Ende ging es sehr schnell.

Am wichtigsten für Lykke in der letzten Zeit war, dass ihr lieber Mads im Leben gut weiterkam. Also tritt sie in den letzten Tagen zu Islam um. Damit er sie auf seiner Art beerdigen konnte. Zu dem gewissem Ärger der Freundinnen, die außerhalb vom Trauersaal die Zeremonie durch einen kratzigen Lautsprecher mithören mussten. Aber ich verstehe, dass sie später ihre eigene Abschiedsfeier machten.

Lykkes Zugang zum Leben und Tod hat mich zutiefst beindruckt, Teile ihrer Methoden habe ich auf eigener Art in den verschiedenen Herausforderungen meines eigenen Lebens übernommen.

Nicht zuletzt lächle ihr freundlich und gerne zu alten Damen, die mir auf meinem weg begegnen!